Wie der jüdische Lehrer Sally Bein Kindern mit Behinderung eine Zukunft gab

In der Israelitischen Erziehungsanstalt Beelitz förderte der Lehrer Sally Bein jüdische Kinder mit Behinderung. In der NS-Zeit wurde das „Judenheim“ geschlossen.

Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB) mit Sitz in der Steglitzer Straße in Berlin nahm gemeinsam mit der Großloge für Deutschland des Bnei-Briss-Ordens die Silberhochzeit des deutschen Kaiserpaares im Jahr 1907 zum Anlass, ein Heim für „schwachsinnige, aber bildungsfähige Kinder“ in Beelitz/Mark zu errichten. Die hierfür neu geschaffene Stiftung erhielt den Namen Wilhelm-Auguste-Victoria-Stiftung.

Die Einrichtung war bis 1933 die einzige jüdische Einrichtung in Deutschland, die geistig und körperlich behinderte jüdische Kinder aufnahm, sie unterrichtete und durch heilpädagogische Arbeit auf ein Berufsleben vorbereitete. Die Gründung der Anstalt wurde nicht nur als eine „Pflicht der Humanität“ deklariert, sondern es war auch die Rede von der „Ehre der deutschen Judenheit“.

Die Stadt Beelitz schenkte hierfür das Grundstück, das in den Besitz des DIGB und der Großloge überging. Die Kosten für den Neubau in Höhe von 120.000 Mark und für die Einrichtung wurden von verschiedenen jüdischen Gemeinden, der Loge und von privaten Spendern aufgebracht. Der DIGB und die Großloge gründeten zur Verwaltung des Heimes den Verein „Israelitische Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder Wilhelm-Auguste-Victoria-Stiftung in Beelitz e.V.“, der sich ganz allgemein „die Pflege und Erziehung geistig zurückgebliebener Minderjähriger beiderlei Geschlechts in einem besonderen Heim“ zur Aufgabe gestellt hatte. Symbolisch pachtete der Verein von den beiden Besitzern das Grundstück und Haus.

Dem damals erst 26-jährigen Lehrer Sally (eigentlich Samuel) wurde die Leitung angetragen. Sally Bein wurde am 6. November 1881 in Hohensalza geboren. Sein Vater Leib Bein war Schneider, die Mutter Johanna, geborene Baer, Hausfrau. Von 1902 bis 1906 studierte Sally an der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt Berlin und schloss seine Prüfungen als Volks- und Taubstummenlehrer ab. Danach war er als Lehrer an der Israelitischen Taubstummenanstalt in Berlin-Weißensee tätig. Am 14. September 1908 heiratete Sally die am 15. August 1883 in Holzhausen im Kreis Marburg/Lahn geborene Rebeka Löwenstein und beide traten als Ehepaar ihre Stellen in Beelitz an.

Das Ehepaar Bein hatte zwei Töchter, Hanne Lotte und Lisa Karola. Hanne Lotte wurde am 9. Juni 1910 in Beelitz geboren, sie studierte Zeitungskunde und Theaterwissenschaft an der Philosophischen Fakultät an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. 1937 emigrierte sie nach England, heiratete im selben Jahr den Arzt Dr. Siegfried Neu und wanderte mit ihm nach Britisch-Indien aus. 1947 kehrte das Ehepaar nach England zurück. Siegfried starb 1964 in England. Über das weitere Schicksal von Hanne Lotte ist nichts bekannt.

Lisa Karola wurde am 28. Mai 1916 in Beelitz geboren. Wie ihre Eltern wurde auch sie Lehrerin.

Kleine Klassen und differenzierte Förderung

Sally Beins Handeln war von starken Gefühlen der Liebe und Zuneigung zum „kranken“ jüdischen Kind bestimmt. Mit der Errichtung der Beelitzer Hilfsschule sah er für „geistig schwache“ Kinder die Möglichkeit gegeben, „soweit wie nur irgend erreichbar, geistige Förderung ihnen zu gewähren, handliche Fertigkeit ihnen zu verschaffen und sittlich-religiöse Bildung ihnen zu übermitteln“. Die Potsdamer Abteilung für Kirchen- und Schulwesen genehmigte am 5. September 1908 den Heim- und Schulbetrieb für je 20 Kinder beiderlei Geschlechts. Am 20. Oktober wurden die ersten Kinder im neuen Heim aufgenommen. Der 25. Oktober 1908 war der offizielle Gründungstag für die Israelitische Erziehungsanstalt und Anfang November begann der Unterricht.

Es stand für Bein außer Frage, dass an seiner Einrichtung nur der Weg der Koedukation beschritten werden konnte. Unterrichtet wurde grundsätzlich in der Zeit zwischen 8.00 Uhr und 12.15 Uhr in 40-minütigen Unterrichtsstunden. Der Samstag war schulfrei. Um den Kindern die Konzentration auf den Unterricht zu erleichtern und den ständigen Kontakt mit dem Lehrer und den Mitschülern zu ermöglichen, waren die Bänke in einem geschlossenen Kreis aufgestellt worden. Bein nutzte auch die Erfahrungen der Freiluftschulbewegung.

Die Kinder, die bis auf Ausnahmen im Alter zwischen dem sechsten und vierzehnten Lebensjahr aufgenommen wurden, waren nicht nur „schwachsinnig“, sondern hatten oft auch körperliche Behinderungen. Einige hatten Schwierigkeiten beim „korrekten“ Sprechen und Artikulieren. Es gab aber auch Kinder, die zusätzlich schwerhörig oder fast taub waren.

Da nicht das Alter des Kindes, sondern seine konkreten physischen Voraussetzungen für die Einordnung in eine bestimmte Klasse bestimmend waren, konnten in den zweijährigen Stufen individuelle Unterschiede langfristig berücksichtigt werden. Innerhalb einzelner Fächer wurden noch einmal Differenzierungen vorgenommen. Da die Klassen bewusst klein gehalten waren, konnte Bein mit voller Berechtigung den Unterricht als einen „im wahren Sinne des Wortes Individualunterricht“ bezeichnen.

Die Erziehungsanstalt hatte bewusst den Namen „Israelitische“ angenommen. Auf religiöse Erziehung wurde großer Wert gelegt und das Haus den jüdischen Traditionen entsprechend geführt. Die Fächer Religion (nur in der Oberstufe), Biblische Geschichte und Hebräisch in ihrem Verbund mit dem rituell geführten Heim stellten eine Einheit in der Erziehung zum Judentum da.

Bei den Gottesdiensten, die in der Erziehungsanstalt abgehalten wurden, wirkten die älteren Knaben aktiv mit. So hatte Bein beispielsweise für den Schabbat-Gottesdienst eine Art „Kinderpredigt“ eingeführt, die einer der Zöglinge hielt. Die gewählten Themen kamen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld der Kinder. Es war auch hier der erfolgreiche Versuch von Sally Bein, selbstständiges soziales Fühlen und Handeln in der Verbindung mit religiöser Erziehung anzuregen.

Einen großen Stellenwert nahm die Handarbeit, die praktische Betätigung, ein. Die Beelitzer Anstalt wollte ihre Zöglinge bestmöglich für eine spätere Berufswahl vorbereiten. Das Fach „Handarbeit“ hatte direkt mit der Tatsache zu tun, dass etwas „mit der Hand gearbeitet wurde“. Neben der Unterweisung im Buchbinden gab es auch Arbeiten im Tischlern, Schneidern, Schustern und in der Korbmacherei. Zumeist fungierten Beelitzer Handwerker als Lehrer. Für diesen Unterricht standen gesonderte Werkstatträume zur Verfügung.

Aus vielen Ländern kamen Besucher

Zum Teil konnten die Zöglinge der Beelitzer Erziehungsanstalt so weit gefördert werden, dass sie nach ihrer Entlassung in eine öffentliche Gemeinde- beziehungsweise Hilfsschule eingeschult werden konnten. Andere erlernten anschließend ein Handwerk. Meine Recherchen haben ergeben, dass in der Zeit zwischen 1908 und 1942 etwa 350 Kinder die Anstalt in Beelitz durchlaufen haben. Das Beelitzer Heim fand auch außerhalb Deutschlands große Beachtung. Aus vielen Ländern kamen Besucher, um den Erziehungsalltag vor Ort mitzuerleben.

Nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 änderte sich für das Erziehungsheim außer der Straßenumbenennung in Schlageterstraße 5 erst einmal nichts. Natürlich gab es auch in Beelitz Bestrebungen, das lästige „Judenheim“ loszuwerden. In den Jahren zwischen 1933 und 1942 gab es unzählige Versuche, die Kinder und Jugendlichen aus dem Haus zu werfen, um das Grundstück zu enteignen. Bis 1942 hielten die Jüdische Gemeinde und die Erziehungsanstalt allen Versuchen stand.

Am 14. April 1942 wurde die erste Gruppe von Schülern, Lehrern und Erziehern für den Deportationstransport zusammengefasst. Mit 24 Heimpfleglingen, darunter Else Schwarz, Jahrgang 1892, die 1908 als eines der ersten Kinder zu Sally Bein nach Beelitz gekommen und seitdem im Heim geblieben war, gingen der Lehrer Ludwig Wolf, die Kinderpflegerin Anna Friedland und die Köchin Hermine Blumenthal mit auf den Transport in das Ghetto Warschau.

Die zweite Gruppe mit den verbliebenen 23 Heimbewohnern verließ am 2. Juni 1942 das Haus und wurde in das Vernichtungslager Sobibor geschickt; dieser gehörten Sally, Rebeka und Lisa Karola Bein an. Für jedes Kind musste Sally Bein zuvor die sogenannte Vermögenserklärung für die Oberfinanzdirektion ausfüllen und eventuelle Besitztümer angeben. Für den 5., 6. und 10. April sind von ihm für die Kinder ausgefüllte und unterschriebene Erklärungen nachweisbar. Die Erklärungen der Beins datieren vom 1. Juni 1942. Alle zurückgelassenen Besitztümer der Bewohner der Erziehungsanstalt fielen an das Deutsche Reich.

Am 20. Juli 1942 erschien im Stadt- und Landanzeiger der Zauche ein Inserat: „Am Donnerstag, dem 23. Juli 1942, um 11 Uhr, werden in Beelitz (Mark), Schlageterstr. 5, Wohnungseinrichtungsgegenstände und sonstige Einrichtungsgegenstände verschiedenster Art öffentlich gegen Barzahlung versteigert. Das Finanzamt Beelitz (Mark)“. Auf 14 Seiten des Versteigerungsprotokolls vom 23. Juli sind die versteigerten Gegenstände, die Namen der Käufer und der jeweils erzielte Verkaufspreis aufgeführt. Von einer „alten Jacke“ (10 Pfennig) bis zum „Sofa mit Umbau“ (143 Reichsmark) und dem Klavier (300 Reichsmark) wurde alles verkauft. Der Erlös der Versteigerung in Höhe von 1148,30 Reichsmark wurde im März 1943 an die Oberfinanzkasse Berlin-Brandenburg überwiesen.

Mit dem Einmarsch der Roten Armee in Beelitz im April 1945 war für Beelitz und seine Einwohner der Krieg beendet. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) nutzte das örtliche Schulgebäude der Stadt zur Einrichtung ihrer Militärkommandantur. Deshalb wurde die Volksschule zunächst im Gebäude der Israelitischen Erziehungsanstalt eingerichtet.

Anschließend stand das Gebäude leer. In den Zeiten der DDR beherbergte das Gebäude die Agraringenieurschule. Seit 1991 beherbergt die ehemalige Israelitische Erziehungsanstalt ein Beelitzer Gymnasium. 1996 wurde auf dem Gelände ein modernes Schulgebäude durch Fördermittel des Landes Brandenburg errichtet. Im Jahr 1997 erhielt das Gymnasium auf Initiative des Pfarrers Wolfgang Stamnitz den Namen des Leiters der Israelitischen Erziehungsanstalt, Sally Bein.

Tatjana Ruge ist seit 2009 in verschiedenen Gedenkprojekten in Deutschland und Israel tätig und recherchiert seit 2016 über die Israelitische Erziehungsanstalt in Beelitz. 2022 ist ihre zusammen mit Andreas Paetz verfasste Jüdische Miniatur Die Israelitische Erziehungsanstalt in Beelitz und ihr Leiter Sally Bein im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen.

Dieser Beitrag wurde zuerst am 31.1.2023 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung veröffentlicht.