10 Fragen an Landesrabbiner Ariel Kirzon, Jüdische Gemeinde Stadt Potsdam

Landesrabbiner Ariel Kirzon. Foto: Michael Schall
1. Was hat Sie bewegt, Rabbiner zu werden – und nicht Arzt, Informatiker, Kosmonaut oder Fussballstar?

Es gibt jede Menge schöne Berufe, und ich habe auch verschiedene: Baufacharbeiter, Ökonom, Mazze-Bäcker und eben Rabbiner. Aber der Rabbiner-Beruf ist mir darunter der liebste, es ist so etwas wie ‚Arbeit plus Tora!‘, und jeden Tag erlebt man Spannendes mit den Menschen, die man im Leben begleitet.

2. Sie kommen ursprünglich aus der Ukraine. Was gab den Ausschlag, jüdische Gemeinden in Brandenburg – und ganz besonders eine der Potsdamer Gemeinden – betreuen zu wollen?

Ich war und bin geographisch nicht festgelegt. Brandenburg hat viele jüdische Zuwanderer, eine ganze Reihe von jüdischen Gemeinden, die diese gegründet haben, besitzt aber keinen Rabbiner. Und hier bin ich nun. Ich habe zeitweise schon in einigen anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland ausgeholfen, aber hier fühle ich mich verwurzelt.

3. Was sind die wichtigsten Aufgaben für Sie als Rabbi hier in Potsdam und Brandenburg?

Das Wichtigste ist das Dasein für die jüdischen Menschen hier, und zwar für alle – egal, welchen Beruf, welches Alter oder welche Weltsichten sie haben. Es ist wichtig, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit wächst, und natürlich auch die Kenntnis der jüdischen Tradition. Es gibt auch sehr viele Alltagsaufgaben zu bewältigen, so wie für Geistliche in anderen Religionsgemeinschaften auch: Gottesdienstgestaltungen, Krankenbesuche, Seelsorge, Besuche bei einsamen und isolierten Menschen. Und natürlich gebe ich sehr gern Tora-Kurse für Interessierte. Eine Unterscheidung zwischen wichtigen und weniger wichtigen Aufgaben würde mir aber schwer fallen.

4. Wieviel Sprachen muss ein Rabbi sprechen können, um in einer jüdischen Gemeinde in Brandenburg gut zurechtzukommen?

99 Prozent unserer Gemeindemitglieder sind Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion und sprechen vorrangig Russisch. Ich glaube, damit ist die Frage schon fast beantwortet. Natürlich benötigt man Russisch, um die Seele und die Mentalität der vielen Mitglieder zu erreichen. Hebräisch ist die Sprache der Tora und der Liturgie, also auch sehr wichtig. Und Deutsch ist natürlich wichtig im Umgang mit der Gesellschaft.

5. Was war für Sie das bisher schönste Erlebnis Ihrer Arbeit hier, und was war die schwierigste Situation?

Ich habe seit letztem Sommer hier in der Potsdamer Gemeinde schon eine Brit Mila1Die Brit Mila ist die Entfernung der Vorhaut des männlichen Gliedes nach jüdischem Brauch. Durchgeführt wird sie durch einen Mohel, den Beschneider, der in der Praxis der Brit Mila ausgebildet wurde. Die Brit Mila feiern viele jüdische Familien mit Freunden und Verwandten als freudiges Ereignis. und eine Bar Mitzwa2Im Alter von 12 bzw. 13 Jahren werden jüdische Mädchen und Jungen im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes zu Erwachsenen. Die religiöse Volljährigkeit heißt bei Mädchen Bat Mizwa, „Tochter des Gebots“. Bar Mizwa bedeutet „Sohn des Gebots“. Bar Mizwa und Bat Mizwa werden von den Familien in der Gemeinde festlich begangen. mit der Gemeinde feiern können, das waren hier bisher die schönsten Momente in in meiner Arbeit. Die schwierigste Situation gab es häufiger – immer dann, wenn von neuem in Frage stand, ob und wie die künftige Synagoge in Potsdam gebaut wird. Aber jetzt scheint da alles auf einem guten Weg zu sein, und das stimmt mich hoffnungsvoll.

6. Wie wichtig ist Religion für den Einzelnen, und wie wichtig für die Welt?

Vielleicht braucht nicht jeder Mensch die Religion, aber sie hilft der seelischen Gesundheit. Und Religion ist wichtig in der Gemeinschaft, erst dort wird sie zu einer Kraft und Inspiration. Ich finde es immer schade, wenn viele Menschen sich erst an die Religion erinnern, wenn etwas Schlimmes passiert – ein Autounfall, eine schwere Erkrankung, oder der Tod eines geliebten Menschen. Wenn sich die Menschen erst in letzter Sekunde an ihre religiösen Wurzeln und Traditionen erinnern, dann finde ich das bedauerlich.

7. Wie erleben Sie die Stadt Potsdam, und wie erleben Sie Brandenburg?

Die Brandenburger Orte, in denen ich unterwegs bin, und erst recht auch die Landeshauptstadt Potsdam, wirken auf mich meistens sehr freundlich. Ich gehe jeden Samstag, jeden Schabbat mit meiner Familie durch Potsdam spazieren, entdecke immer wieder schöne Orte und erlebe ziemlich entspannte Menschen. Ich überlege auch schon länger, von Berlin nach Potsdam umzuziehen, bin aber noch auf der Suche nach einer preisgünstigen Wohnung.

8. Kommen auch Nichtjuden zu Besuch in Ihre Gemeinde(n)?

Selbstverständlich. Und es gibt auch einzelne Besucher, die einfach regelmäßig einen jüdischen Gottesdienst erleben wollen, ohne dass sie jüdischer Herkunft sind. Sie interessieren sich einfach für die jüdische Liturgie und für die Gebete im Gottesdienst, die wir natürlich auch in deutscher Sprache vorliegen haben.

9. Wer ist Ihr größtes Vorbild für das eigene Leben?

Rabbi Yitzchok Zilber (1917-2004), ein legendärer russischer Rabbiner, der der Wahrheit nie ausgewichen ist und für seinen Glauben und sein Volk auch politische Repression in Kauf genommen hat. Später ist er nach Israel gegangen. In Jerusalem habe ich ein Jahr lang bei ihm studiert und auch in seinem Haus gelebt.

10. Wie sieht die Zukunft des Judentums in Brandenburg aus?

Darauf möchte ich tatsächlich mit einer Begebenheit antworten, die mein eigener theologischer Mentor, Yitzchok Zilber, im März 1953 erlebte und mir später erzählte. Er wurde als politischer Gefangener und Jude in einem sowjetischen Gefängnis festgehalten, und ein Besucher fragte ihn, ob es noch eine Zukunft für die Juden im Land gäbe. Stalins Judenverfolgungen waren zu diesem Zeitpunkt unerträglich geworden. Doch Yitzchok Zilber antwortete dem ratsuchenden Besucher: „Du kannst nicht einmal überschauen, was in den nächsten 20 Minuten geschehen wird, aber fragst mich, was morgen sein wird? Bleiben wir einfach gelassen.“

Interview: Olaf Glöckner